Exkursion einer Klasse aus Leipzig – Besuch in Buchenwald: „Mit mir hat das irgendwie nicht so richtig was gemacht“

Wohin führt faschistischer Terror? Dafür steht ein ehemaliges Konzentrationslager wie kaum ein anderer Ort. Begreifen das Jugendliche, wenn sie morgens in Buchenwald aus dem Bus steigen und nachmittags wieder wegfahren? Auf Exkursion mit einer Schulklasse aus Leipzig.

Auf dem Appellplatz des ehemaligen Konzentrationslagers Buchenwald steht eine Gruppe Jugendlicher im eisigen Wind. Er fährt Wanda durch die dünne Jacke, zerzaust die Haare von Lola und Jakob. Nur Prisca scheint gegen ihn gewappnet: Unter ihrer Kapuze trägt sie noch eine Mütze. Die vier sind Schüler, sie gehen in die zehnte Klasse. Buchenwald kennen sie aus dem Geschichtsunterricht. Doch ihre Lehrer finden, man könne viel über die NS-Verbrechen reden. Um zu begreifen, müsse man die Orte sehen, an denen sie begangen wurden. Deswegen sind sie jetzt hier.

Aber das Lager, in dem Tausende Menschen zu schwerster Arbeit gezwungen wurden, gleicht einer Brache. Von den Baracken sind nur noch die Grundmauern übrig. Über dem Ettersberg liegen zwar graue Wolken, doch der Blick geht weit ins Land. In der Ferne drehen sich ein paar Windräder. Die vier blicken sich um, ratlos.

Es ist jetzt nicht so, dass sie sich nicht für all das hier interessieren würden. Die Jugendlichen sind in den vergangenen Wochen gegen Rechtsextremismus auf die Straße gegangen. Sie waren bei Protesten, bei denen immer wieder zu hören und zu lesen war: „Nie wieder ist jetzt“. Und Orte wie Buchenwald stehen symbolhaft für das, was damit gemeint ist. Sie zeigen, wohin faschistischer Terror führen kann.

Doch wer in der Gedenkstätte einen Tag mit Wanda, Lola, Prisca und Jakob verbringt, Schülern und Schülerinnen des Leipziger Friedrich-Schiller-Gymnasiums, dem wird klar: Faschistischer Terror ist auch dann schwer zu begreifen, wenn man direkt da steht, wo er am schlimmsten war. Noch schwerer ist all das, was danach kommt. Fragen wie: Was hat all das mit uns zu tun – und mit der Zeit, in der wir leben?

Die Geschichtslehrerin will gut vorbereitet sein

Es ist noch dunkel, als die Klassenfahrt von Leipzig nach Buchenwald beginnt: 6.45 Uhr haben sich die zehnten Klassen des Friedrich-Schiller-Gymnasiums mit ihren Lehrern auf mehrere Busse aufgeteilt. Cornelia Schnapka-Bartmuß zählt noch mal durch, nur ein Schüler fehlt. Die Lehrerin lässt sich vom Fahrer das Mikrofon geben: „Ich erwarte, dass ihr euch alle benehmt, und wünsche euch einen ereignisreichen Tag.“ Dann setzt sie sich in die erste Reihe.

Die 50-Jährige unterrichtet Religion und Geschichte. Ihr ist klar, dass es mit fortschreitender Zeit auch immer schwieriger wird, den Schülerinnen und Schülern begreiflich zu machen, was damals zur NS-Zeit passiert ist. Manchmal schnappen sie auch irgendwelche Sprüche auf, zu Hause oder in den sozialen Medien. Den Menschen sei es doch unter Adolf Hitler ganz gut gegangen.

Wenn so was kommt, reagiert sie nicht mit Entrüstung. „Stattdessen frage ich nach: Wer hat denn profitiert und auf wessen Kosten?“ Sie findet es wichtig, mit Originalquellen zu arbeiten: Mit ihrer Klasse hat sie die Berichte von Paul Salitter und Hilde Sherman studiert und diskutiert. Salitter organisierte als Polizist die ersten Deportationen von Juden nach Riga. Shermann hat sie überlebt und später in einem Prozess ausgesagt.

Die Pädagogin war noch nicht so oft mit Schulklassen in Buchenwald. Die Führung hat immer ein Kollege übernommen. Weil der nun ausfällt, hat sie am Wochenende die Homepage der Gedenkstätte Buchenwald durchforstet. Sie hat sich die wichtigsten Daten und Zahlen notiert. Dazu Informationen zu Orten, die für die Schüler interessant sein könnten.

Es steht alles in schwungvoller Schrift auf Karteikarten, ein richtiger kleiner Stapel. Denn Buchenwald hat eine Geschichte, die weit über 1945 hinaus reicht. Nach dem Zweiten Weltkrieg nutzten es die Sowjets als Kriegsgefangenenlager, zu DDR-Zeiten wurde Buchenwald Teil der DDR-Propaganda. Zur Jugendweihe war der Besuch üblich.

Buchenwald liegt hoch oben auf dem Ettersberg, zehn Kilometer von Weimar entfernt. Die Chaussee, die den Hügel hinauf zur Gedenkstätte führt, heißt Blutstraße. Die Häftlinge des Konzentrationslagers haben sie so genannt. Es ist 9 Uhr, als die Reisebusse die Blutstraße hinauf fahren. Hinter der Lehrerin dösen noch einige Schüler, hören Musik. Die Reste des Frühstücks werden weggepackt, es riecht nach Parfüm und Schnitte.

Der Bus hält auf einem leeren Parkplatz. Schnapka-Bartmuß und ihre Kollegen wollen den Jugendlichen das Mahnmal zeigen, dass zu DDR-Zeiten auf dem Ettersberg errichtet wurde. Die Jugendlichen laufen die steilen Treppen hinab, verweilen vor der Bronzeplastik von Fritz Cremer, die mehrere Männer zeigt: ausgemergelt, aber auch entschlossen mit erhobener Faust. Dahinter ragt der Glockenturm in den Himmel.

Es ist eine monumentale Kulisse, die einiger Erklärung bedarf – doch dafür ist weniger Zeit als gedacht: Zehn Uhr beginnt im Kino der Gedenkstätte der Einführungsfilm. Weil die Lehrerin und ihre Klasse Verspätung haben, pfeift sie ein Kollege herbei. Als seien sie hier auf dem Fußballplatz.

Sie versuchen, sich zu beeilen, ohne zu rennen. Drinnen ist der Saal voll besetzt und als es dunkel wird, reihen sich auf der Leinwand Originalaufnahmen und Interviews mit ehemaligen Lagerhäftlingen aneinander. Die Männer erzählen von Prügel und Folter, davon wie sie selbst abstumpften gegen all das Leid und den Tod um sie herum. Als sich die Tür des Kinos wieder öffnet, treten Lola und Wanda nachdenklich raus. Im Kopf sind sie noch bei den Bildern, die sie gerade gesehen haben. Bei den Aufnahmen von US-Soldaten, die nach der Befreiung des Lagers entstanden sind. Sie zeigen Bürger aus Weimar, die durch das Lager laufen mussten, um sich anzusehen, was da jahrelang vor ihrer Haustür ablief.

Ein Ort, der schwer greifbar ist

In den Videoschnipseln war zu sehen, wie sich manche Taschentücher vor die Nase hielten gegen den Gestank. „Haben sie wirklich nichts gewusst? Wollten sie es nicht wissen?“ Es sind Fragen, die die Jugendlichen gerne in Ruhe diskutieren würden. Doch ihre Lehrerin und die anderen sind schon weiter gegangen. Sie müssen ins Museum. Wanda beugt sich über die Vitrinen mit Unterlagen, mit den Fingern fährt sie über das Metall einer Lore, einem kleinen Waggon, mit dem die Häftlinge Steine transportieren mussten. Sie interessiert sich für die Geschichte von Martin Wolff, ein Jude, der ins Lager kam, weil er verbotenerweise ein Fahrrad besaß.

Wieder draußen, schauen sich Lola, Wanda und Prisca die Orte an, die noch vom Konzentrationslager übrig sind. Da ist der kleine Raum, in dem Häftlinge per Genickschuss getötet wurden. Schweigend betrachten sie die Öfen, in denen Tag und Nacht Leichen verbrannt wurden, schauen sich um in der Pathologie, wo toten Häftlingen die Goldzähne herausgebrochen wurden. In einer Vitrine liegen die medizinischen Instrumente. Dann stehen sie auf dem Appellplatz, im Wind, in der Ferne drehen sich die Windräder. Sie sagen: „Es ist irgendwie schwer greifbar.“ „Ich weiß nicht.“ „Mit mir hat das jetzt irgendwie nicht so richtig was gemacht.“

Benehmen sollen Lola, Wanda, Prisca und die anderen sich, darum hatten die Lehrer ja extra nochmal gebeten. 149 registrierte rechtsextreme Vorfälle gab es im vergangenen Jahr an sächsischen Schulen. In Buchenwald, am Mahnmal zeigte ein Schüler den Hitlergruß. Die Leipziger Schulklasse kommt nicht einmal in die Nähe solcher Dinge. Ihr Benehmen ist nicht das Problem. Alle hier wollen begreifen. Und sind ratlos, frustriert, weil es nicht richtig gelingt.

Woran könnte es liegen? Ein Anruf bei Holger Obbarius. Er hat schon als Student Besuchergruppen über das Buchenwald-Gelände geführt – heute ist er der pädagogische Leiter der Gedenkstätte. 3000 Schulklassen kommen jedes Jahr. Obbarius hat schon viel erlebt: Lehrer, die Foltergeschichten erzählen, ihre Klassen im Winter auffordern, die Jacken auszuziehen, weil sie wissen sollen, wie es sich hier oben für die Häftlinge angefühlt haben muss, die nur dünne Hemden, Hosen und Holzpantinen trugen. „Wenn mir kalt ist, ich Angst bekomme – dann lerne ich nichts“, sagt Obbarius.

Die Gruppe aus Leipzig hat aus seiner Sicht schon mal einiges richtig gemacht: Sich Zeit genommen, die Jugendlichen nicht ganz allein gelassen, sondern mit dem Audioguide losgeschickt. Optimal findet er das Ganze trotzdem nicht: „Ein Audioguide beantwortet und stellt keine Fragen.“

Der nächste Besuch in Buchenwald soll anders werden

Die Gedenkstätte bietet für Schulklassen mehrstündige Führungen an. Buchen muss man ein Jahr im Voraus. Wenn die Kollegen von Obbarius mit Schülern unterwegs sind, dann suchen sie sich gezielt Details heraus, um das große Ganze zu erzählen. Warum war das Lager nur mit einem dünnen Stacheldraht umgeben? Warum vergnügten sich die Familien der SS-Aufseher im Zoo, nur wenige Meter vom Krematorium entfernt? „Weil sie das normal fanden.“ Und warum? „Weil das das Abbild der idealen Gesellschaft war: Die Elite der Volksgemeinschaft auf der einen, die angeblich minderwertigen Elemente auf der anderen Seite.“

Der nächste Schritt wäre dann, darüber zu reden, welche Gruppen heute eigentlich ausgegrenzt werden, gegen wen gehetzt wird. Bei solchen Gesprächen sei den Jugendlichen anzusehen, wie es arbeitet. Man müsse denen nichts vorkauen. Mittlerweile gibt es in der Gedenkstätte richtige „Stammkunden“, manche Schulen kommen gleich mehrere Tage.

Die Schüler und Schülerinnen des Friedrich-Schiller-Gymnasiums müssen nach fünf Stunden wieder zurück nach Leipzig. Ein letztes Mal durchzählen. Alle da. 14 Uhr fährt der Bus. Und als Cornelia Schnapka-Bartmuß wieder auf ihrem Platz sitzt, ist sie nachdenklich. Sie war den ganzen Tag auf dem Gelände unterwegs, falls jemand Fragen hat. Und einige Schüler haben sie angesprochen, mit denselben Problemen wie Wanda und die anderen. Noch bevor der Bus wieder auf der Autobahn ist, steht für die Lehrerin fest: Nächstes Mal wird es anders.